Die Aufgaben der Gesundheitspolitik lauten Digitalisierung, Restrukturierung, Dekarbonisierung

Veröffentlicht: 4. Oktober 2022Kategorien: Medizin der Zukunft

Es ist übermittelt, dass der Kommissar des amerikanischen Patentamtes, Charles Holland Duell, zum Übergang ins 20. Jahrhundert meinte, dass alles, das erfunden werden könne, bereits erfunden wurde. Natürlich bringt uns diese scheinbar naive Aussage heutzutage zum Lächeln, denn immerhin wissen wir heute, welche großartigen Dinge allein im 20. Jahrhundert noch erfunden werden sollten. Jedoch muss man bedenken, dass diese Aussage in der Dynamik der damaligen Zeit getätigt wurde, die durch bahnbrechende Erfindungen gekennzeichnet war. Ein paar Beispiele gefällig? Die Erfindung des Autos, die Elektrifizierung der Großstädte sowie neue Kommunikationsmittel durch Telefon und Telegrafie.

Heute hält die Digitalisierung die Menschheit in Atem

Nicht nur im Übergang zum 20. Jahrhundert, sondern auch heute befinden wir uns in sämtlichen Lebensbereichen vor ähnlich großen technischen Quantensprüngen. Jedoch dürfen wir uns demütig bewusst sein, dass sich die genauen Auswirkungen dieser Quantensprünge auf unser alltägliches Leben noch nicht in ihrer Gänze absehen lassen. Vor mehr als 100 Jahren war es die fortschreitende Industrialisierung, welche die Menschheit in Atem hielt und in ein neues Zeitalter katapultierte. Heute ist es die Digitalisierung, welche die Nutzung von gigantischen Datenmengen mit sich bringt und die unser aller Leben dauerhaft verändert hat und weiterhin verändern wird – heute noch unabsehbar von ihrem Ausmaß her.

Die Medizin ist nur noch zweiter Sieger

Die Medizin ist seit Menschengedenken ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil der Gesellschaft und als Wissenschaft ein Antreiber für Fortschritt und Innovation. Bereits seit der Antike ist sie das Sahnehäubchen auf der technologischen und wissenschaftlichen Torte. Auch wenn sich ihre Fortschritte in Sachen Diagnose und Therapie nicht bestreiten lassen, hat die Medizin zumindest die technologische Speerspitze an große Konzerne aus dem Bereich der IT verloren. Diese geben inzwischen sowohl für die Medizin als auch für viele andere Industriebereiche den Takt vor.

Gewaltige Datenmengen

Gewaltige Datenmengen

Die Medizin der Zukunft soll dem Menschen dienen

Die Digitalisierung innerhalb der Medizin ist eine der wichtigsten Baustellen. Nur mit Technisierung und Digitalisierung lassen sich die gewaltigen Datenmengen bei der Diagnose und Therapie von Krankheiten zum Wohle des Patienten nutzen. Nur auf diese Weise lassen sich Krankheitsbilder erforschen, deren Entstehungsweise der Medizin bisher verschlossen blieb. Zudem bietet die Digitalisierung die Möglichkeit, das medizinische Personal zu entlasten – durch Unterstützung bei automatisierten Prozessen sowie der Dokumentation. Dadurch wiederum wird die Medizin menschlicher, da sich wenigstens etwas Druck aus den Prozessen nehmen lässt, die wirtschaftlich getrieben sind. Das Personal hat wieder mehr Zeit, sich dem Patienten als Mensch zu widmen.

Nur durch eine effiziente und digitalisierte Medizin lässt sich die große Aufgabe lösen, eine gute medizinische Versorgung auch in der Zukunft leistungsfähig sowie finanzierbar zu gestalten – und dies vor dem Hintergrund des demographischen Wandels.

Die Digitalisierung ist ein Gradmesser für das Gesundheitssystem

Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn hat bereits frühzeitig erkannt, dass die Digitalisierung innerhalb des Gesundheitssystems ein wesentlicher Faktor für die Qualität der Krankenversorgung in der Zukunft ist. In diesem Zusammenhang lässt sich die Einführung der elektronischen Patientenakte als ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung bezeichnen. Wenn dieses Projekt auch nicht in Perfektion ausgereift war, so wird es wohl erst in der künftigen Nachbetrachtung entsprechend gewürdigt werden.

Dieser relevante Baustein im Bereich der Digitalisierung der Medizin war jedoch nur ein Lückenschluss, wenn man andere europäische Länder wie etwa Lettland oder Dänemark zum Vergleich heranzieht. Auf ihrem Weg in eine digital gestützte medizinische Zukunft sind einige Länder bereits deutlich weiter als Deutschland.

Das Dilemma der Überversorgung

Wenn man Jens Spahn als Vordenker für eine moderne Medizin betrachtet, dann kommt diese Ehre auch dem nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann zu. Immerhin hat sich dieser mit einer Krankenhausstrukturreform einem zweiten zentralen Problem gewidmet, nämlich der unausgewogenen medizinischen Versorgung zwischen ländlichen Regionen und Ballungsräumen und der Überversorgung mit kleinsten Krankenhäusern.

Nicht nur in Nordrhein-Westfalen befinden wir uns in der Situation, dass Ballungsräume oftmals überversorgt sind, wohingegen sich eine medizinische Grundversorgung in ländlicheren Regionen mehr und mehr in Gefahr befindet, nicht zuletzt auch aufgrund des Rückgangs der klassischen Hausarztpraxen. Dazu kommt noch erschwerend, dass sich zahlreiche Krankenhäuser immer noch als Generalisten begreifen, in denen man unabhängig von Fallzahlen beinahe sämtliche Behandlungsmaßnahmen durchführt.

Neustrukturierung digitaler Prozesse

Neustrukturierung digitaler Prozesse

Eine Neustrukturierung ist unausweichlich

Beide Themen haben einen gegenseitigen Einfluss aufeinander. So ist Digitalisierung erst dann in der Lage, eine positive Dynamik zu entfalten, wenn sie effiziente Strukturen vorfindet. Digitalisierung allein kann aus schlechten analogen Prozessen keine funktionierenden Abläufe zaubern. Die Folge in diesem Fall sind dann einfach schlechte digitale Prozesse. Ebenso ist Digitalisierung nicht in der Lage, das Dilemma einer schwach funktionalen Krankenhauslandschaft, die Mikromanagement betreibt, abzufangen. In diesem Bereich verschenkt man massives Potenzial und somit auch wirtschaftliche Ressourcen. Auf der anderen Seite kann man keine funktionierende Krankenhauslandschaft ohne Digitalisierung erwarten. Nur dadurch lässt sich eine qualitativ hochwertige Medizin, auch in ländlichen Regionen, erreichen bzw. halten.

Telemedizin und elektronische Sprechstunden: Wichtig für die Zukunft der Medizin

Wenn die künftige medizinische Struktur komplexen Krankheitsbildern mit großen spezialisierten Einheiten begegnen möchte, dann ist für die Grundversorgung der Einsatz von Telemedizin, elektronischen Sprechstunden und vielen weiteren digital basierten Angeboten unverzichtbar. Mit diesen Services lässt sich nicht nur die Grundversorgung, sondern auch eine Anbindung ländlich geprägter Regionen an die Spitzenmedizin erreichen.

Klare Verteilung der Aufgaben ist erforderlich

Diese zukünftige Vision ist nicht zwangsläufig verbunden mit einer deutlichen Reduzierung von Krankenhäusern, auch wenn eine gewisse Verringerung vielleicht sinnvoll erscheint. Viel wichtiger ist es, die Aufgaben klar zu verteilen. So sorgen kleine Kliniken für die notwendige medizinische Versorgung in der Breite, wohingegen größere Krankenhäuser mit entsprechend hohen Fallzahlen für komplexere Krankheitsbilder sowie Operationen zuständig sind. Auch wenn dieses Modell nun zukunftsfähig und logisch erscheint, darf man bei aller Euphorie nicht die Mentalität des deutschen Gesundheitssystems außer Acht lassen, das von einzelnen Interessen geprägt ist. So wurden in der Vergangenheit immer wieder sinnvolle Innovationen zerredet und blockiert.

Wie sieht eine zukunftsweisende Gesundheitspolitik aus?

Aus dieser Analyse ergeben sich die zentralen Aufgaben einer zukunftsweisenden Gesundheitspolitik. Eine Verbindung der Digitalisierungsoffensive – angestoßen durch das Krankenhauszukunftsgesetz – mit der Krankenhauslandschaft in Deutschland.

Beide Ziele lassen sich nicht voneinander trennen. Eine gewisse Tragik besitzt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sowohl die Neugestaltung der Kliniklandschaft als auch die ersten Erfolge im Bereich der medizinischen Digitalisierung durch die Corona-Pandemie ausgebremst wurden.

Telemedizin - Anruf beim Arzt

Telemedizin – Anruf beim Arzt

Wie steht es um Nachhaltigkeit im deutschen Gesundheitswesen?

Ein weiterer wichtiger Punkt für die Gesundheitspolitik der Zukunft betrifft Umwelt und Nachhaltigkeit. Die größte Branche in unserem Industrieland ist die Gesundheitswirtschaft. Es ist wichtig, diese umweltgerecht und nachhaltig aufzustellen, was grundlegender Veränderungen bedarf. Bisher wurden die Themen Nachhaltigkeit und Klima in diesem Zusammenhang jedoch stiefmütterlich behandelt. Der Grund hierfür: Vor allem die Krankenhäuser vertraten die Auffassung, grundsätzlich auf der „guten Seite“ zu stehen und sich nicht beim Ringen nach gesellschaftlicher Akzeptanz, wie es in vielen anderen Industrien der Fall ist, verausgaben zu müssen. In solchen paradiesischen Zuständen darf und kann sich die Medizin aber nicht wälzen, allein weil die Fakten dies nicht erlauben.

So hat die Nichtregierungsorganisation „Health Care Without Harm“ errechnet, dass das Gesundheitswesen für 4,4 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich ist – noch mehr als die Schifffahrt oder etwa der Flugverkehr. Allein in Deutschland macht das Gesundheitswesen jedes Jahr 5,2 Prozent der gesamten nationalen Emissionen aus.

Das Grüne Krankenhaus als Krankenhaus der Zukunft?

Aufgabe der Politik ist es also, die Bedeutung des Gesundheitssystems für den Klimaschutz anzuerkennen. Im zweiten Schritt geht es darum, entsprechende politische Rahmenbedingungen zu schaffen – in Verbindung mit einem ressourcenschonenden Umbau der Industriegesellschaft in Deutschland. Jedoch betrifft dieses Thema nicht nur die Politik, sondern auch die Akteure im Gesundheitswesen, die ihrerseits eine Verantwortung haben. Ein ganzheitlicher Ansatz der Medizin setzt auch die Erkenntnis voraus, dass Menschen nur in einer intakten Umwelt gesund bleiben bzw. gesund werden können.

Universitätsmedizin Essen als Pionier in Sachen Grünes Krankenhaus

Die Universitätsmedizin Essen hat damit begonnen, diesen Weg einzuschlagen. So wurde im letzten Jahr ein Klimamanager ernannt, der verantwortlich für die Koordination verschiedener Aktivitäten im Bereich Nachhaltigkeit ist. Unterstützung erfährt dieser durch eine übergeordnete Arbeitsgruppe, welche die wichtigsten Schnittstellenabteilungen im Konzern beinhaltet. Wichtige Bedeutung haben zudem etwa 130 Nachhaltigkeitsbeauftragte aus jeder Abteilung sowie allen Standorten des Krankenhauskonzerns. So hat die Universitätsmedizin Essen das ehrgeizige Ziel, nicht nur in Sachen Smart Hospital, sondern auch beim Green Hospital Pionier zu sein – auf dem Weg in eine moderne und auf den Menschen ausgerichtete Medizin.

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Quelle: Prof. Dr. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender, Universitätsklinikum Essen Handelsblatt Journal November 2021