Telemedizin – der plötzliche Aufstieg des medizinischen Aschenputtels

Veröffentlicht: 6. April 2020Kategorien: Medizin der Zukunft

Die Telemedizin wird durch die Corona Pandemie salonfähig

Die Corona Pandemie macht die bisher geächtete Telemedizin in der deutschen Ärzteschaft plötzlich salonfähig. Die Gründe dafür sind vielfältig und leiten hoffentlich eine nachhaltig positive Entwicklung im Umgang mit dieser wertvollen Medizin-Ressource ein.

„Nie war sie wichtiger als jetzt“.

Gemeint ist trotz der ernsten aktuellen Lage rund um das Coronavirus nicht etwa die Mundschutzmaske. Das Zitat ist vielmehr der Titel eines Blogbeitrages auf der Online Plattform DocCheck. Dort nimmt man sich in  verständlicher und manchmal provokanter Form aktueller medizinischer Themen an. Meist kurz und knapp auf den Punkt gebracht. Es geht in dem bezeichneten Beitrag um die Telemedizin. Darin wird beschrieben, wie dieser bisher in Deutschland so geschmähte Zweig medizinischer Dienstleistungen über Nacht zu einem Star wird.

Viele Vorteile der Telemedizin

„Nie war sie wichtiger als jetzt“. Ich freue mich über Aussagen wie diese. Wie den meisten Menschen geht mir die derzeitige Pandemie sehr nahe, und ich sehne nichts mehr als ein Ende der für uns alle bedrohlichen Lage herbei. Dennoch scheint ausgerechnet diese Bedrohung durch ein noch wenig bekanntes Virus einen von mir lange erwarteten und gewünschten Paradigmenwechsel herbeizuführen. Deutsche Ärzte beginnen,  die Vorteile der Telemedizin zu erkennen und – was fast noch wichtiger ist – zu schätzen. Ich kann nur sagen: Das wurde auch Zeit. Es ist in der Tat hohe Zeit, sich der Medizin der Zukunft zu öffnen, wie das in anderen Ländern schon Jahre und Jahrzehnte der Fall ist.

Was ist denn eigentlich Telemedizin?

Als spezieller Teilbereich der Telematik kann die Telemedizin räumliche sowie zeitliche Distanzen zwischen einem Arzt und einem Patienten überbrücken. Die Telematik verknüpft schon von ihrer Begrifflichkeit her die beiden Bereiche Telekommunikation und Informatik. Hier finden sich Anwendungsbereiche, die die Informationsverarbeitung und die Telekommunikation miteinander kombinieren. Die Telemedizin ist bereits in vielen Ländern ein wichtiger Bestandteil der modernen Medizin.

Abweichend von der üblichen Diagnostik und Therapie auf stationärer Ebene mit persönlicher Begegnung kommunizieren Arzt und Patient  bei der Telemedizin mittels Telekommunikation. In vielen Fällen werden beispielsweise Videochats eingesetzt, um mit dem Patienten auf räumliche Distanz kommunizieren zu können. Dabei beschränkt sich der mögliche Anwendungsbereich der Telemedizin bei weitem nicht nur auf Beratungsleistungen durch den Arzt.

Ausgezeichnete diagnostische Möglichkeiten

Pilotprojekte auch in Deutschland haben gezeigt, dass beispielsweise im Hautarztbereich ausgezeichnete diagnostische Möglichkeiten bestehen. Dabei haben Patienten mit dem Handy aufgenommene Fotos von Hautveränderungen online eingereicht. Diese wurden von Fachärzten überprüft. Die Universität Tübingen konnte mit ihrem Projekt TeleDerm dabei zeigen, dass auf diese Weise innerhalb von zwei Tagen treffsichere dermatologische Diagnosen möglich sind.

Die telemedizinische Diagnostik hat dabei viele Vorteile. Zum einen können die Fachärzte in vielen Fachrichtungen wie beispielsweise der Dermatologie entlastet werden, weil die Erstdiagnostik auf elektronischem Wege ohne einen zeitaufwändigen Patientenbesuch erfolgt. Zum anderen trauen sich auch Patienten, die beispielsweise aus Scham bei bestimmten Hautveränderungen keinen Arzt in der Praxis aufsuchen wollen, auf diesem Wege ärztlichen Rat einzuholen. Es hat sich gezeigt, dass man hier unsichere und ängstliche Patienten später von der Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung überzeugen kann. Man denke in diesem Zusammenhang an manche Geschlechtskrankheiten, bei denen sich Betroffene einfach scheuen, dem Arzt in einem ersten Gespräch in die Augen zu schauen. Oft vergeht so wertvolle Zeit, bis eine Diagnose gestellt und die mögliche Erkrankung behandelt wird.

Pilotprojekt „OhneArztPraxis“ aus Baden-Württemberg

Ein weiteres Pilotprojekt aus Baden-Württemberg zeigt, dass die medizinische Versorgung in ländlichen Gebieten mit telemedizinischen Anwendungen wesentlich verbessert werden kann. In der „OhneArztPraxis“  werden Ferndiagnostik und Fernbehandlung telemedizinisch und primär durch nichtärztliches Personal durchgeführt. Bei Bedarf werden Ärzte aus der Region in die Behandlung einbezogen.

Auch Verlaufskontrollen (Telemonitoring) bei chronischen Erkrankungen wie beispielsweise Parkinson können telemedizinisch durchgeführt werden, ohne dass der Patient dabei die Arztpraxis aufsuchen muss. Ohne lange Fahrtzeiten auf sich zu nehmen erhält der Patient eine optimale Betreuung.  Wartezeiten in Praxen könnten der Vergangenheit angehören, wenn sich Ärzte ihre Zeit mit telemedizinischen Anwendungen besser einteilen und die Patienten individuell nach den Beschwerdebildern in Praxisfälle und telemedizinische Fälle aufteilen könnten. Das wäre eine große Erleichterung auch für die vielen Fachärzte unterschiedlicher Bereiche, die kaum noch wissen, wie sie mit der großen Zahl an Patienten fertig werden sollen.

Mit der Telemedizin müssten Patienten nicht mehr auf Termine warten

Mit dem verstärkten Einsatz der Telemedizin müssten Patienten nicht mehr monatelang auf einen ersten Termin mit ihrem Arzt warten. Vielmehr könnte in einer ersten telemedizinischen Konsultation geklärt werden, wie mit den Beschwerden weiter umzugehen ist, welche Untersuchungen anstehen könnten und was in dieser Zeit für den Patienten wichtig wird. Würde die Telemedizin mit der entsprechenden elektronischen Verwaltungsstruktur gekoppelt, ließen sich auch Krankschreibungen, die Ausstellung von Rezepten und viele weitere Leistungen des Arztes ohne einen Besuch des Patienten in der Praxis abwickeln. Ich bleibe hier absichtlich im Konjunktiv, weil die meisten von uns wohl wissen, wie das Thema elektronische Krankenakte bisher in Deutschland behandelt wurde. Stiefmütterlich wäre wohl eine sehr anschauliche Beschreibung.

Ärztliche Konsultation auf Abstand

In der aktuellen Pandemiesituation zeigt sich ein weiterer großer Vorteil der Telemedizin: Telemedizinische Anwendungen ermöglichen eine ärztliche Konsultation auf Abstand. Hausärzte und andere Fachärzte können für viele ihrer Patienten da sein, ohne die zurzeit heikle persönliche Nähe aufbauen zu müssen. So können insbesondere Beschwerden und Erkrankungen abgegrenzt werden, für die kein persönlicher Arztbesuch notwendig ist. Das verringert das Risiko einer Ansteckung für Patienten, Ärzte und Mitarbeiter der Arztpraxis. Mit dem Abstandsgebot erwacht die Telemedizin zu vollem Leben. Dabei war sie in Deutschland lange Zeit totgesagt.

Unzählige Möglichkeiten in der Patientenbetreuung

Summa summarum eröffnet dieser spezielle therapeutische Zweig unzählige, wunderbare Möglichkeiten in der Patientenbetreuung, Diagnostik, Behandlung und Beratung. Für Deutschland musste man allerdings lange sagen, dieser spannende Zweig der medizinischen Versorgung k ö n n t e viele neue Möglichkeiten eröffnen. Denn während europäische Vorreiter der Telemedizin wie Schweden die digitale Patientenbetreuung zum Beispiel via Smartphone schon zu einem Regelfall gemacht haben, bremsten ausgerechnet die Ärzte die Telemedizin hierzulande lange Zeit aus.

Vom Stiefkind zum geschätzten Familienmitglied

Noch 2017 erklärten fast 60 % aller niedergelassenen Ärzte, sie würden Telemedizin nur auf gesetzlichen Zwang hin einsetzen wollen. Dabei konnten seit April 2017 Videosprechstunden durchgeführt und auch abgerechnet werden. Diese vehemente Ablehnung telemedizinischer Anwendungen erstaunt. Immerhin hat der Schwerpunkt auf der Präsenzmedizin in Deutschland dazu geführt, dass der Arzt durchschnittlich kaum mehr als 7 Minuten für jeden Patienten Zeit hat. Viele Ärzte scheinen diese eklatante zeitliche Belastung eher in Kauf genommen zu haben, als sich mit den Möglichkeiten telemedizinischer Anwendungen vertraut zu machen.

Ärztliche Beratung auch per Videochat möglich

Lange Zeit standen auch rechtliche Hürden der Telemedizin im Weg. Das in den ärztlichen Berufsordnungen der Länder verankerte Fernbehandlungsverbot ließ den überwiegenden Teil von telemedizinischen Anwendungen nicht zu. Bezeichnend ist, dass das Fernbehandlungsverbot ein Merkmal der ärztlichen Selbstverwaltung war. Vielleicht ist der ärztliche Widerwillen gegen die Telemedizin auf diese lang eingeübte Art zu denken zurückzuführen. Schließlich hob der Bundesärztetag in Erfurt im Mai 2018 das Fernbehandlungsverbot auf. Unter gewissen Einschränkungen ist seitdem die ärztliche Beratung auch per Videochat möglich. Bisher waren allerdings für unbekannte Patienten Krankschreibungen sowie die Ausstellung von Rezepten via Telemedizin nicht erlaubt.

Das Abstandsgebot macht es möglich

In der aktuellen Pandemiesituation erlebt die Telemedizin einen nie gekannten Aufschwung und eine nie gekannte Anerkennung. Derzeit noch geltende Beschränkungen für telemedizinische wurden von der KVB zunächst ausgesetzt. Plötzlich werden Krankschreibungen bei grippalen Symptomen der oberen Atemwege über das Telefon möglich. Videochats ermöglichen es, ohne persönlichen Kontakt und ohne Wartezeit in der Praxis, Beschwerden und Anliegen der Patienten abzuklären.

Mit den Möglichkeiten der Telemedizin kann der persönliche Kontakt minimiert werden. Wer krank ist, kann sich lange Wege und Wartezeiten im Kontext eines Praxisbesuches ersparen. Die zurzeit intensiv geforderte Ärzteschaft kann sich ihre Zeit wesentlich besser einteilen. Das Praxispersonal kann erste Vorgespräche übernehmen, und selbst in ländlichen Gebieten kann eine flächendeckende Betreuung gewährleistet bleiben.

Neue Möglichkeiten in der medizinischen Betreuung nutzen

Ich kann hier nur sagen: Wir müssen diese innovative Herangehensweise an die Möglichkeiten der Telemedizin unbedingt in die Zeit nach der Corona Krise hinüberretten. Hier stelle ich der Politik, den ärztlichen Verbänden und den Ärzten folgende Fragen:

  • Was können alle gemeinsam tun, um die neue Sichtweise auf die Telemedizin auch in entspannteren Zeiten zu erhalten?
  • Wie vermeiden wir, dass wir wieder in alte Muster und die typischen Behandlungsformen der Präsenzmedizin zurückfallen?

Wir haben zurzeit die einmalige Chance, in der medizinischen Betreuung in Deutschland einen Quantensprung zu vollziehen. Diese Chance dürfen wir auf keinen Fall übersehen und sie auch nicht verpassen. Die medizinische Landschaft wird nach Corona – und Corona wird uns nach Lage der Dinge noch lange beschäftigen – nicht mehr die gleiche sein wie vorher. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass  sie besser und effektiver ist als vor der Pandemie. Dann sind wir auch den weiteren Herausforderungen im Gesundheitswesen gewachsen.

Skandinavische Länder zum Vorbild nehmen

Mir bleibt die Hoffnung, dass vor allem  die politischen Kräfte die positiven Veränderungen im Kontext von Telemedizin erkennen.  Lockerungen bei den Voraussetzungen für den Einsatz sollten unbedingt beibehalten werden. Wir müssen uns skandinavische Länder wie Schweden zum Vorbild nehmen und genau hinschauen, wie man dort mit Telemedizin umgeht.

Ich denke, wir haben im Gesundheitswesen zurzeit die einzigartige Möglichkeit, aus praktischen Anforderungen heraus notwendige Reformen im Gesundheitswesen durchzuführen. Dabei erleben wir Veränderungen live in Aktion. Wir müssen keine theoretischen Debatten darüber führen, wie bestimmte Strukturen verändert werden können und wie sich das in der Praxis zeigt. Wir erleben mit der Pandemie die Praxis der Telemedizin und die Vorteile ihrer Anwendung täglich. Wenn wir in einiger Zeit auf die Pandemie zurückschauen, sollten wir auch immer an die Telemedizin denken. Sie ist einer der Retter in der Not.

Ein Großteil der Patienten wünscht sich eine telemedizinische Betreuung

Mir bleibt ebenso zu hoffen, dass die meisten Ärzte nicht mehr in die Zeit zurück wollen, in der Telemedizin das Aschenputtel der Medizin in Deutschland war. Die breite Öffentlichkeit hat die Bedeutung der Telemedizin übrigens längst erkannt und die Akzeptanz der Patienten wächst  enorm. Der Digitalverband Bitkom hat zu Beginn der Epidemie im März eine repräsentative Blitzumfrage bei 1.000 Patienten durchgeführt. 66% wünschen sich die Möglichkeit telemedizinisch betreut zu werden. Im Frühjahr 2019 lag dieser Wert noch bei 30%.

Ja, sie war wirklich nie wichtiger als heute – die Telemedizin.

Für heute gibt es wieder eine Whats Next Frage an alle Ärzte und Patienten:

Haben Sie in letzter Zeit Erfahrungen mit Telemedizin gemacht? Teilen sie Ihre Erfahrungen mit mir. Sei es als Arzt oder Patient. Ich bin gespannt.

Herzlichst Ihr Gerd Wirtz
www.facebook.com/Dr.Gerd.Wirtz

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